19.November 2022 | 20 Uhr

Zeitgenössische Musik & Multimedia

Jens Barnieck in Schneelandschaft

Jens Barnieck: Schamanen und Dämonen

Piano Solo

In Film, Text und Musik greift der Pianist Jens Barnieck „Klänge des Himmels“ und „Klänge des Abgrundes“ auf.
Es erklingen Klavierwerke des 20. und 21. Jahrhunderts von Mauricio Kagel, Morton Feldman, Yvar Mikhashoff, John Luther Adams, Tui St. George Tucker, Leo Ornstein und die Uraufführung eines Werks des kolumbianischen Komponisten Victor Agudelo, das Dank des Stipendienprogramms des Deutschen Musikrates zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Webseite noch im Prozess des Entstehens ist.„Wenn ich schamanisiere, bin ich nicht hier, nicht an dem Ort, an dem ich die Dungur-Trommel spiele, es ist nur mein materieller Körper, der da ist: Ich bin mit den Geistern unterwegs, dort ist meine ganze Aufmerksamkeit. Wenn mich jemand berührt, versucht, meine Aufmerksamkeit dort in der Jurte zu bekommen, ist das gefährlich, es wäre wie ein tiefer Sturz: es ist also ganz anders, als wenn man vor einem Publikum musiziert, wo man da sein muss, um aufmerksam zu sein auf das, was der materielle Körper tut, auf alles, was ich in der Musikschule gelernt habe…“
Sergei Tumat (ein tuwinischer Schamane, der zuvor Musik studiert hatte)

Programm:

Vera Lachmann (1904-1985): Catawba (1972)

Tui St. George Tucker (1924-2004): On a Mountain Road at Summer’s End

aus: Notes from the Blue Mountains

Wheeler Sparks: Bilder vom Blue Ridge Park (North Carolina)

 

Karmella Tsepkolenko (*1955): aus Color Sounds (1990)

John Luther Adams (*1943): aus In Search of An Ecology of Music

John Luther Adams (*1943): Nunataks (Solitary Peaks) (2007)

 

Karmella Tsepkolenko (*1955) aus Color Sounds (1990)

Luciano Berio (1925-2003): Wasserklavier (1965)

Film: Jens Barnieck. Bild: Emil Hädler, Urban Sketchers Rhein Main

 

Mauricio Kagel (1931-2008): MM 51 Ein Stück Filmmusik (1976)

Paul Schmidt (1934-1999): Shaman

Yvar Mikhashoff (1941-1993): Shaman (1992)

aus Elemental Figures

Karmella Tsepkolenko (*1955): aus Color Sounds (1990)

Victor Agudelo (*1979): The Shaman’s Flow (2022 Uraufführung)

Film: Eva Engelbach, Jens Barnieck


Biographien:

Tui St. George Tucker (1924-2004) wurde in Kalifornien geboren und zog 1946 zum Studium nach New York. Sie war Komponistin (bekannt für ihre mikrotonalen Werke) und virtuose Blockflötistin. Tui ist ein australischer Vogel; der Spitzname wurde Lorraine von ihrer australischen Mutter gegeben. Die meiste Zeit ihres Lebens wohnte sie in den Bergen North Carolinas, wo sie zusammen mit der deutschen Dichterin Vera Lachmann (1904-1985), die 1939 vor den Nationalsozialisten in die USA fliehen musste, ein Sommercamp für Schuljungen leitete, das nahezu zwanzig Jahre existierte. Dort komponierte sie abseits des „Mainstream“ und starb 2004 in ihrer Blockhütte im Wald. Vera Lachmann schrieb mehrere Gedichte über das Camp Catawba. Das ehemalige Camp ist heute Teil des Blue Ridge Parkways.  Zu dem Klavierstück hat der amerikanische Fotojournalist Wheeler Sparks, Dallas, TX Bilder gemacht, die sich genau auf den Platz beziehen, der in der Musik beschrieben wird. 


John Luther Adams (1953), Preisträger des National Endowment for the Arts und der Rockefeller Stiftung beschreibt seine Musik selbst als „Phantasiewelt, die direkt mit der wirklichen Welt, der größeren Welt verbunden ist.“ In seinen Kompositionen und Kompositionsprozessen sucht Adams die Verbindung zur Natur, besonders in seiner Wahlheimat Alaska. Die Beschäftigung mit der Kultur der Ureinwohner fließt ebenso wie seine Naturbeobachtungen (Stille, Zuhören, seismographische Vorhersagen) und Eindrücke des besonderen, arktischen Lichtes in seine Musik, seine Installationen und schriftstellerischen Werke  ein. Der Musikjournalist Jesse Jarnow fragt daher: „Hat Alaska seine Musik hervorgebracht oder hat diese Musik sein Alaska erschaffen?“ Nunataks sind die kleinen Bergspitzen der ursprünglichen Landschaft, die im Zuge der Klimaerwärmung unter dem schmelzenden, „ewigen“ Eis wieder zu Tage treten.


Luciano Berio wurde am 24. Oktober 1925 in Oneglia/Ligurien in eine Komponisten-Familie geboren. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er folglich zunächst zu Hause. Er liebte musikalische Experimente – so erfordert die Aufführung seines Stück Amores beispielsweise die Errichtung eines eigenen Gebäudes. Ihn reizte die Verbindung von unterschiedlichen Stilen, von Literatur und Musik, seine Lieblingsbeschäftigung war „Musik denken.“ Nach dem Studium am Mailänder Konservatorium und im amerikanischen Tanglewood war er schon 1955 Mitbegründer von Italiens erstem Studio für elektronische Musik. Er heiratete die amerikanische Sopranistin Cathy Berberian, die zu einer kongenialen Interpretin seiner Werke wurde. Er selbst lehrte später in Cambridge, Harvard und San Francisco. Am bekanntesten sind seine „Sequenza“ genannten Kompositionen für verschiedene solistische Instrumente.


Mauricio Kagel: „Ähnlich wie in Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene ist das Thema meines Klavierstückes die Drohung unausgesprochener Gefahren und Ängste. Aber im Gegensatz zum Orchesterwerk von Schönberg, das eigenständig in einer expressionistischen Musiksprache geschrieben wurde, sind hier nur schablonenhafte Muster jener kommerziellen Musik verwendet, die wir aus unzähligen Produktionen der Filmindustrie kennen. Die Verknüpfung dieser Musik mit der Erinnerung an typische Situationen des Schauderns in Kriminalfilmen ermöglicht beim Hörer die Heraufbeschwörung fragmentarischer Szenen: Das Ergebnis ist die Vorstellung privater Horrorphantasien. Es sei noch auf ein mit Tempo 51 schlagendes Metronom hingewiesen. Das gleichmäßige Ticken erhöht jene rhythmische Spannung, die für die musikalische Atmosphäre des Stückes unerlässlich ist. Aber zugleich löst das unerbittliche Objekt, wenn es manchmal fast selbständig, geisterhaft in Schräglage geht, beim Pianisten unerwartete, schurkenhafte Affekte aus.“


Karmella Tzepkolenko erhielt als erste Frau den ukrainischen Staatspreis (Goldmedaille) für Komponisten. Eine Anerkennung für die Musikerin, die mit ihren Musiktheaterwerken, symphonischen Stücken und Kammer- und Vokalmusik einen sehr persönlichen Weg der spirituellen musikalischen Ausdrucksform in Verbindung mit einer komplexen Kompositionstechnik geht. Anerkennung für ihre Musik fand die Komponistin, die zur Zeit der Sowjetdiktatur kein leichtes Auskommen mit den offiziellen Kulturstellen hatte, inzwischen sowohl in ihrer ukrainischen Heimat als auch in vielen Ländern der westlichen Welt, vor allem aber in Deutschland. In der Ukraine macht sich die Komponistin und Pianistin auch stark für die Neue Musik in ihrer Funktion als Präsidentin der IGNM-Sektion Ukraine und als künstlerische Leiterin des Festivals ‚Zwei Tage und zwei Nächte für Neue Musik‘ in Odessa. Sie schreibt momentan an ihrer 7. Sinfonie.

 

Yvar Mikhashoff (1941-1993) beschäftigte sich als virtuoser Pianist und Komponist zeitlebens mit vielseitigen Projekten. Er arbeitete mit bedeutenden zeitgenössischen Komponisten zusammen und ließ sich in seinen eigenen Werken inspirieren von anderen Künsten. So entstand sein Werk „Shaman“ nach dem gleichnamigen Gedicht des hauptsächlich als Übersetzer der Werke Tschechows ins Englische bekannt gewordenen Schriftstellers Paul Schmidt. Es ist das zweite Stück aus der Trilogie „Elemental Figures“ und baut auf der Fibonacci Sequenz 1-2-3-5-8-13 etc. auf.  In die Komposition eingeflossen sind zwei authentische Melodien des Papago Stammes der Ureinwohner Amerikas (Arizona): Ein langsames Wiegenlied und eine schnelle, vogelgesangartige Melodie, der Gesang der Rotkehlchen, die im amerikanischen Südwesten den Beginn des Winters verkünden.

 

Victor Agudelo aus Medellin in Kolumbien hat extra für den heutigen Abend ein Stück für mich geschrieben. Es ist ein originelles Stück, das Techniken des klassischen Klavierspiels mit bildhaften Elementen und mit dem Beatboxing der populären Musik vereint. „Víctors exotisches und überschwängliches Land überrascht uns und wird durch das unerschöpfliche Universum seiner Musik hörbar.“ (LA Phil). Nach einem Musikstudium und Auszeichnungen in Kolumbien, studierte er in den USA (Memphis), um wieder zurück in sein Heimatland zu gehen: Er ist im Moment außerordentlicher Professor an der Adventist University Corporation (UNAC) in Medellin, leitet das Periscopio Ensemble und arbeitet in Kompositionsprojekten mit internationalen Künstlern (u.a. mit den Los Angeles Philharmonikern unter Gustavo Dudamel).

Die im vom Komponisten geforderten Begleitfilm vorkommenden Darstellungen des Dämonen und Schamanen (schwarz, das Gesicht verhüllend und weiß) sind lediglich als Farbspiel, nicht aber als möglicherweise herabwürdigende Darstellung von Kleidungsstücken anderer Kulturen oder als kulturelle Aneignung zu verstehen. 

Programmnotizen: Jens Barnieck

 

Jens Barnieck interpretiert sein Leben und die Musik fließend und gliedernd zugleich, so dass Zuhörende die Struktur der Stücke durchdringen können, ohne die Musik aus den Augen zu verlieren. Nach dem Studium an der Musikhochschule Detmold und der State University of New York at Buffalo verdient er sein Geld mit seiner Hände Arbeit in Klavierabenden, Liederabenden, Kammermusikkonzerten oder Multimediakonzerten. Zwei CD’S mit (Erst)Einspielungen des gesamten Klavierwerks des Komponisten Friedrich Gernsheim sind bereits auf dem Label Toccata Classics, London erschienen. Weitere folgen.

Er war Stipendiat der Bundeskulturstiftung/Land Hessen an der Cité Internationale des Arts, Paris und am Deutschen Studienzentrum Venedig. Außerdem wurde er gefördert von dem Deutschen Musikrat, der Avenira Foundation Schweiz, der Hessischen Kulturstiftung, dem KulturFonds Frankfurt Rhein Main, der Kulturstiftung Taunusstein und war Artist-in-Residence am Virginia Center for the Creative Arts in Amerika.                     

www.jensbarnieck.de 


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